Mitochondriale Vesikel
von Dr. Kai Blau 16 März, 2021
Das Endomembransystem ist das Postnetzwerk unserer Zellen. Mitochondrien, die Kraftwerke unserer Zellen, zählen klassischer-weise nicht zu diesem System. Diese Ansicht wurde durch die Beobachtung mitochondrialer Vesikel jedoch in Frage gestellt. Mittlerweile werden die mitochondrialen Vesikel mit schweren Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer in Verbindung gebracht.
Corona-Test mit Genschere
von Dr. Kai Blau 01 Feb., 2021
Das Coronavirus SARS-CoV-2 hält uns fest in Schach. Häufiges Testen mit schneller Durchlaufzeit ist notwendig, um die Pandemie zu durchbrechen. Hier könnten Corona-Testverfahren auf Basis von CRISPR/Cas Abhilfe schaffen.
Geschlecht (m/w/d)
von Dr. Kai Blau 09 Jan., 2021
Seit Dezember 2018 können Menschen, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können, mit der Angabe „divers“ im Geburtenregister eingetragen werden. Was entspricht den biologischen Kategorien „männlich“ und „weiblich“ und wie kann das menschliche Geschlecht kategorisiert werden?

Die Minimalzelle

Wie viele Gene braucht Leben?

4. Mai 2020

Das Erbgut menschlicher Zellen enthält die Informationen für ungefähr 20.000 Gene [1]. Das Genom des Porcinen Circovirus-1 umfasst genau zwei Gene [1]. Wie viele Gene sind nötig, um von einem eigenständigen Lebewesen zu sprechen? Wie klein kann das Erbgut einer Zelle sein, um dennoch die nötigsten, zellulären Prozesse steuern zu können? Und was sind die nötigsten Prozesse, die eine Zelle ausführen muss, um als Lebewesen zu gelten? Diese Fragen versuchen Forschende mit der Erschaffung einer Minimalzelle zu beantworten.

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Die Anzahl der Gene und die Größe des Erbguts sind in verschiedenen Lebewesen recht unterschiedlich. In den Anfangstagen der Genetik war man sicher, dass die Komplexität eines Lebewesens in direktem Zusammenhang zu der Größe seines Erbguts und der Anzahl der darauf befindlichen Gene steht [2]. Als Beispiel kann angeführt werden, dass das Darmbakterium Escherichia coli , ein einzelliger Prokaryot, also eine Zelle ohne echten Zellkern, ein Erbgut bestehend aus 4,6 Millionen Basenpaaren besitzt, auf dem sich etwa 4.400 Gene befinden. Das Erbgut der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae , immerhin ein einzelliger Eukaryot, besteht aus etwas über 12 Millionen Basenpaaren, auf dem knapp über 6.000 Gene liegen. Eine menschliche Zelle beinhaltet ein Genom bestehend aus etwa 3 Milliarden Basenpaaren und rund 20.000 Genen [1]. Je mehr jedoch über das Erbgut bekannt wurde, desto mehr Abweichungen von dieser Regel wurden gefunden. Während in Prokaryoten noch ein feststellbarer Zusammenhang zwischen der Komplexität des Organismus und der Größe seines Genoms besteht, ist diese Abhängigkeit bei Eukaryoten nicht gegeben [3]. In anderen Worten: Die Komplexität eines Lebewesens hängt nicht von der Anzahl seiner Gene bzw. Größe seines Erbguts ab. Das wird an folgenden Beispielen klar: Das menschliche Genom setzt sich aus etwa 3 Milliarden Basenpaaren zusammen; die rund 624 Arten von Salamandern haben eine Genomgröße zwischen 10 und 120 Milliarden Basenpaaren [4]. Die einzellige Amöbe Polychaos dubium besitzt hingegen eines der größten Genome, bestehend aus 670 Milliarden Basenpaaren [5]. Dennoch ist es wissenschaftlich unhaltbar zu behaupten, dass Amöben komplexer seien als Salamander, oder dass Salamander komplexere Lebewesen seien als Menschen. Diese Beobachtung wurde zunächst als C-Wert-Paradoxon bezeichnet, wobei der C-Wert die Gesamtmenge an DNA des einfachen Chromosomensatzes angibt [6]. Erst die genauere Untersuchung und letztlich die Entschlüsselung des Erbguts verschiedener Lebewesen und speziell des Menschen konnte das Paradoxon erklären. Die Genome eukaryotischer Lebewesen bestehen zu großen Teilen aus Sequenzwiederholungen und Transposons (siehe auch „Wenn Gene wandern: Transposons“). Im Menschen enthält nur ein kleiner Teil des Genoms, nämlich 20%, die Informationen für Gene und gerade einmal 2% entfallen auf die Exonen, die die Informationen für die Herstellung von Proteinen enthalten [7]. Somit hängt die Größe des Erbguts neben anderen Faktoren entscheidend von der Anzahl an Mutationen ab, die weitere Basenpaare hinzufügen oder bestehende Basenpaare entfernen, sowie von der Aktivität der Transposons, die durch ihr „Springen“ das Genom vergrößern. Doch selbst wenn alle Sequenzwiederholungen, Introns usw., entfernt werden, besitzen Organismen viele Gene, die Proteine codieren, die nur für bestimmte Situationen von Bedeutung sind. Wie viele Gene haben sich also im Laufe der Evolution angesammelt, weil sie unter bestimmten Umweltbedingungen von großer Bedeutung sind, aber unter konstanten Bedingungen nicht überlebenswichtig sind? Oder kurz gefragt: Wie viele Gene benötigt ein Lebewesen mindestens, um leben zu können?

Was ist Leben?


Um zu beantworten, ab wie vielen Genen ein Lebewesen als lebend bezeichnet werden kann, muss zunächst definiert werden, was denn eigentlich Leben bedeutet. „Was ist Leben?“ ist eine dieser uralten Kernfragen der Wissenschaft, gleichermaßen gestellt von Philosophen wie auch von Naturwissenschaftlern unterschiedlichster Fachrichtungen. Wie man sich gut vorstellen kann, gibt es nicht die eine Definition für Leben, sondern eine ganze Liste möglicher Definitionen mit Betonung bestimmter Aspekte und somit mit Stärken und Schwächen für ihre Allgemeingültigkeit. Der US-amerikanische Biochemiker Gerald Joyce definierte Leben im Jahr 1991 wie folgt: „Leben ist ein sich selbst erhaltendes chemisches System, welches die Fähigkeit zur Darwin’schen Evolution besitzt“ [8]. Diese Definition wird auch ganz offiziell von der US-Raumfahrtbehörde NASA genutzt, um potenziell extraterrestrisches Leben zu definieren. Interessanterweise scheint Joyce selbst diese Definition nicht mehr zu verwenden [9, 10]. Eine andere Definition stammt vom Physiker Erwin Schrödinger, beschrieben in seiner Vorlesungsreihe „Was ist Leben?“ im Jahr 1943, welche ein Jahr später in Buchform veröffentlicht wurde und erstmals die Idee eines genetischen Codes enthielt [11]. Das Buch wurde im Übrigen von James Watson und Francis Crick gelesen und diskutiert, sodass durchaus gesagt werden kann, dass Erwin Schrödinger Einfluss auf die Entschlüsselung der Doppelhelix hatte [2]. Was schreibt Schrödinger? Zunächst stellt er fest, dass Lebewesen aus Unordnung wieder Ordnung herstellen können. Indem Lebewesen wohlgeordnete Muster von Molekülen erzeugen können, schaffen sie in ihrer Umgebung jedoch eine größere Unordnung. Die Evolution von Molekülstrukturen bleibt somit mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik vereinbar [11, 12]. 

Diese Definitionen sind zwar schön und gut, helfen bei der Frage nach der Mindestanzahl benötigter Gene jedoch nicht weiter. Aus diesem Grund haben Biologen Merkmale festgelegt, die die grundlegenden physikalisch-chemischen Eigenschaften eines lebenden Systems oder eines minimalistischen Organismus umfassen. Folgende Mindestanforderungen sind auf der Website der Max-Planck-Gesellschaft zum Thema Synthetische Biologie aufgelistet [13]:

 

  1. Kompartimente: Lebewesen bestehen oder entstehen aus mindestens einer Zelle, einem durch eine Zellmembran umschlossenen Raum. In diesem Behältnis (Kompartiment) finden alle biochemischen Lebensvorgänge statt.
  2. Programm: Es existiert ein Informationsträger, also ein Programm oder ein genetischer Bauplan, der in Makromoleküle (Proteine) mit einer Funktion übersetzt wird. Das Programm kann archiviert und weitergegeben werden.
  3. Stoffwechsel (Metabolismus): Das System muss zudem fortwährend Stoffwechsel im Kontakt mit der Umwelt betreiben, um sich selbst zu erhalten und sich zu reproduzieren. Da Lebewesen aus thermodynamischer Sicht offene chemische Systeme sind, sind sie gezwungen, ständig mit der Umgebung Stoffe und Energie auszutauschen.
  4. Katalyse: In lebenden Zellen laufen komplexe chemische Reaktionen ab, die Energie verbrauchen. Damit diese überhaupt schnell genug ablaufen können, sind bestimmte Katalysatoren – die Enzyme – nötig. Spezifische Katalyse ist unabdingbar für Leben, wie wir es auf der Erde kennen.
  5. Regulation: Lebewesen sind offene Systeme, die durch einen ständigen Energie- und Stofffluss in einem Fließgleichgewicht gehalten werden müssen. Das gelingt nur durch fein abgestimmte Regulation aller Stoffwechselvorgänge. Der konstant gehaltene Zustand des inneren Milieus wird auch Homöostase genannt.
  6. Wachstum: Vermehrung setzt Wachstum voraus. Und Wachstum ist das Ergebnis aufbauender Stoffwechselvorgänge. Eine Zelle wächst, bis sie sich teilt und Tochterzellen bildet.
  7. Reproduktion: Die genetische Information, das Programm, lässt sich vervielfältigen und an Tochterzellen vererben. So wird sichergestellt, dass der Informationsträger an kommende Generationen weitergegeben wird. Der biochemische Prozess wird Replikation genannt.
  8. Anpassung/Evolution: Im Zuge der Reproduktion kann es auch zu Veränderung kommen, verursacht durch zufällige Mutationen im Informationsträger. Genetisch leicht veränderte Nachkommen haben unter bestimmten Umweltbedingungen einen Überlebensvorteil und höheren Fortpflanzungserfolg und geben diese Mutation an kommende Generationen weiter [13].

Ausgehend von diesen Charakteristika kann die minimale genetische Ausstattung bestimmt werden, die eine Zelle als Lebewesen definiert und die eine Zelle zum Überleben benötigt. Des Weiteren können drei entscheidende Bausteine festgelegt werden, die eine Zelle beinhalten muss. Dies ist erstens das Kompartiment, also die Abgrenzung der Zelle als eigenen Reaktionsraum zur Schaffung einer Mikroumgebung. Auf diese Weise können biochemische Reaktionen ohne den Verlust einzelner Komponenten geschützt und reguliert ablaufen. Zweitens der Informationsspeicher, also das Programm oder Erbgut der Zelle, welches den Bauplan für alle nötigen zellulären Enzyme und Komponenten enthält. Zu diesem Informationsspeicher gehört ein genetisches Informationsverarbeitungssystem, welches die Information ablesen und verarbeiten kann und in der Lage ist, den wandelbaren, zellulären Bauplan zu speichern und zu vermehren. Drittens muss die Zelle Stoffwechselvorgänge ausführen, um die Aufrechterhaltung und Regulation des inneren Gleichgewichtszustandes gewährleisten zu können [14].

Grundbausteine einer lebensfähigen Zelle

Um leben zu können, wird ein sich vervielfältigender, genetischer Informationsspeicher benötigt, sowie ein Metabolismus,  um die erforderliche Energie und Bausteine zur dauerhaften Selbsterhaltung zur Verfügung zu stellen. Beides ist in einem Kompartiment eingeschlossen, das als Schutz und Abgrenzung der zellulären Mikroumgebung dient. (Abbildung entlehnt von [14])

Sind Viren Lebewesen?


An dieser Stelle kann man zunächst einmal fragen, ob Viren zu den Lebewesen gehören. Einige Viren haben sehr kleine Genome. Das am Anfang erwähnte Porcine Circovirus-1 ist hierbei Rekordhalter mit gerade einmal zwei Genen und weniger als 2.000 Nucleotiden [1]. Es finden sich aber auch relativ große Viren wie beispielsweise Megavirus chilensis , dessen Erbgut mit über 1,2 Millionen Basenpaaren sogar größer ist als das mancher Bakterienarten [15]. Aber reicht das aus, um als Lebewesen zu gelten? Die meisten Virologen zählen Viren nicht zu den Lebewesen. Zwar enthalten sie ein Erbgut und somit das Programm zu ihrer Vermehrung und Ausbreitung, jedoch sind sie nicht in der Lage, sich ohne fremde Wirtszelle fortzupflanzen. Das bedeutet, Viren sind nicht zur selbstständigen Replikation ihres Genoms fähig. Darüber hinaus besitzen Viren keinen eigenen Stoffwechsel und sind auch hierbei auf die Wirtszelle angewiesen [16]. Aus Viren kann man also gleich zwei entscheidende Dinge lernen: Erstens ist es bei einer parasitären Lebensweise durchaus möglich, das Erbgut auf ganze zwei Gene zu verkleinern. Auch wenn dadurch die größtmögliche Abhängigkeit von der Wirtszelle besteht, reicht es für die Vermehrung des eigenen Erbguts und somit zum Fortbestehen aus. Zweitens kann das Erbgut sogar größer sein als das von einzelligen Lebewesen und trotzdem wird ohne selbstständige Lebensweise, die Definition als Lebewesen zu gelten, verfehlt. Da Viren ihre Vermehrung steuern können und die Fähigkeit zur Evolution besitzen, können sie aber „als dem Leben nahestehend“ definiert werden [16].

Die Minimalzelle


Am Beispiel der Viren wird klar, dass ein Lebewesen mindestens aus einer Zelle mit eigener Fortpflanzung und eigenem Stoffwechsel bestehen muss. Das ist sozusagen die notwendige Bedingung, um der Definition von Leben überhaupt gerecht zu werden. Erst als zweite Bedingung kann die Minimalgröße des Genoms untersucht werden. Die etablierte Bezeichnung für eine Zelle, die nur die nötigsten Gene enthält, um der Definition von Leben gerecht zu werden, lautet Minimalzelle; das Erbgut der Minimalzelle heißt Minimalgenom [17, 18]. Hierbei sind Minimalzelle und Minimalgenom natürlich theoretische Begriffe, die von Natur aus nicht vorkommen. Das ergibt sich dadurch, dass Lebewesen wechselnden Umweltbedingungen unterworden sind, auf die sie reagieren müssen. Deshalb besitzen selbst einfachste Zellen in ihrem Erbgut die Informationen, um beispielsweise auf die Knappheit einer Nahrungsquelle zu reagieren und stattdessen eine andere Nahrungsquelle nutzen zu können. Unter konstanten Laborbedingungen wäre das natürlich nicht nötig und das macht sich die Wissenschaft zu nutze. Ein ganzer Zweig der Biologie, der als Synthetische Biologie bezeichnet wird, befasst sich mit der Erzeugung biologischer Systeme, also einzelnen Molekülen, Zellen, oder Lebewesen, die in der Natur nicht vorkommen; darunter fällt auch die Erzeugung der Minimalzelle. Warum ist die Erzeugung bzw. Erforschung einer Minimalzelle wichtig? Als erstes geht es natürlich um die daraus gewonnene wissenschaftliche Erkenntnis. Durch das Erzeugen einer Minimalzelle versteht man ganz genau, welche Komponente für welche Funktion entscheidend ist und dieses Wissen kann dann auf weitere Forschungsfelder übertragen werden. Auf einer zweiten Ebene lassen sich solche Minimalzellen aber auch gezielt einsetzen, indem sie so umprogrammiert werden, dass sie medizinisch wirksame Stoffe herstellen oder bestimmte Substanzen abbauen [17-19]. Der Vorteil einer Minimalzelle ist sozusagen, dass nachträglich verschiedenste Stoffwechselwege durch die Zugabe der dafür notwendigen Gene in die Zelle eingebaut werden können. In der Biotechnologie werden Bakterien und einzellige Hefen genetisch verändert und genutzt, um gewünschte Stoffwechselprodukte zu erzeugen. Bekanntestes Beispiel ist vermutlich die Herstellung von menschlichem Insulin mittels Bakterien [20]. Nachteil ist hierbei, dass die Bakterien und Hefen ihr gesamtes Erbgut enthalten, welches bei jeder Zellteilung ebenfalls vermehrt werden muss, obwohl die meisten Gene nicht gebraucht werden. Das kostet Zeit und Energie. Manche Genprodukte stehen einer biotechnologischen Verwendung sogar im Weg. Bei Escherichia coli Bakterien konnte zum Beispiel eine Verringerung der Genomgröße um 15% erreicht werden, was in einer deutlich verbesserten Nutzung dieser Bakterien für biotechnologische Anwendungen resultierte [21]. Die minimale Größe eines Genoms, das alle Gene beinhaltet, die ein Überleben ermöglichen, wurde mehrmals versucht theoretisch zu bestimmen. Die gemachten Vorschläge unterscheiden sich recht stark, wobei die vermutlich kleinste angenommene Menge an Genen bei 151 liegt, was zu einem Genom von gerade einmal 113.000 Basenpaaren führen würde [17].


In der synthetischen Biologie gibt es zwei Wege bzw. Strategien zur Erschaffung einer Minimalzelle [18]. Die erste Strategie wird als Bottom-up-Strategie bezeichnet und baut die Zelle sozusagen aus einzelnen Bausteinen auf. Dafür werden zunächst alle nötigen zellulären Prozesse und die dafür notwendigen Gene identifiziert, die das Minimalgenom enthalten muss, damit die spätere Zelle lebensfähig ist. Zusätzlich müssen aber von Anfang an in der Zelle einige Moleküle vorhanden sein, damit die Gene auch abgelesen und in Proteine und Enzyme übersetzt werden können. Das bedeutet, dass mindestens einige Enzyme, die Ribosomen und transfer RNAs, also im Grunde alle Komponenten der Proteinbiosynthese, künstlich hergestellt und mit dem Minimalgenom in eine Zelle eingeschlossen werden müssen [18]. Hierbei gibt es die verschiedensten Ideen und Vorgehensweisen, aber auch noch viele Schwierigkeiten und offene Fragen. Die zweite Strategie ist die so genannte Top-down-Strategie. Hierbei werden Zellen mit ohnehin schon kleinem Genom genutzt und in diesen die überflüssigen Gene identifiziert und entfernt, bis ein kleinstmögliches Genom übrigbleibt. Dazu muss zunächst das Erbgut verschiedener Bakterien mit kleiner Genomgröße sequenziert und verglichen werden, um die überlebenswichtigen Gene zu identifizieren. Anschließend wird ein künstliches Erbgut erzeugt, welches ausschließlich die überlebenswichtigen Gene enthält und in eine Wirtszelle deren eigentliches Erbgut entfernt worden ist, transplantiert. Die Zelle nutzt dann zunächst ihre bereits vorhandenen Enzyme und Ribosomen, um das synthetische Erbgut abzulesen und neue Enzyme und Ribosomen zu erzeugen. Mit jeder Zellteilung werden dadurch die ursprünglichen Komponenten der Wirtszelle verdünnt oder mit der Zeit abgebaut, sodass am Ende eine Minimalzelle entstanden ist, die ausschließlich synthetische Moleküle enthält [18, 22]. Obwohl die Bottom-up-Strategie unglaublich interessant ist, möchte ich im letzten Abschnitt ausschließlich auf den Top-down-Ansatz eingehen, da es hierzu wissenschaftliche Fortschritte gibt, die der Definition einer Minimalzelle am nächsten kommen.


Für die Top-down-Strategie muss mit einem Bakterium angefangen werden, dessen Genom sehr klein ist. Dafür ist Mycoplasma genitalium ausgewählt worden, ein flaschenförmiges Bakterium ohne Zellwand, das Schleimhautzellen der Harn- und Geschlechtsorgane befällt. Das Genom von Mycoplasma genitalium ist 1995 sequenziert worden und besteht aus 580.070 Basenpaaren und 485 Genen [22, 23]. Es ist das Lebewesen mit dem kleinsten Genom, das im Labor eigenständig kultiviert werden kann. Mycoplasma genitalium zeichnet sich durch einen minimalen Stoffwechsel aus und besitzt nur wenige doppelt vorhandene Gene in seinem Erbgut. Im Jahr 2005 konnte gezeigt werden, dass 100 Gene von Mycoplasma genitalium nicht wichtig für das Überleben unter Laborbedingungen sind. Das bedeutet, dass Mycoplasma genitalium zum Überleben lediglich 382 Gene benötigt, allerdings codieren 28% davon für Proteine mit bislang unbekannter Funktion [24]. Im Jahr 2008 war das Genom von Mycoplasma genitalium das erste, das jemals komplett synthetisch hergestellt werden konnte. Das heißt, die gesamten 580.000 Basenpaare wurden künstlich hergestellt und zu einem Genom zusammengesetzt. Zusätzlich haben die Forschenden Wasserzeichen in die Sequenz eingebaut, also Nucleotidfolgen, die im natürlichen Genom von Mycoplasma genitalium nicht vorkommen und das Genom als künstlich kennzeichnen [25]. Da das Erbgut künstlich hergestellt wurde, bekam es den Namen Mycoplasma genitalium JCVI-1.0, wobei JCVI für das John Craig Venter Institut steht, in dem das Genom erzeugt worden ist [25].

Das hat aber natürlich noch nichts mit synthetischer Biologie bzw. dem Erzeugen von Lebewesen zu tun. Dieser Schritt gelang im Jahr 2010 als die gleiche Arbeitsgruppe des JCVI ein künstliches Genom in eine Zelle einschleusen konnte. Da Mycoplasma genitalium relativ langsam wächst, entschied sich die Arbeitsgruppe für das nahverwandte Bakterium Mycoplasma mycoides. Dessen Genom, bestehend aus etwas über 1 Million Basenpaaren, wurde ebenfalls komplett künstlich hergestellt und anschließend in die Genom-leere Hülle des verwandten Bakteriums Mycoplasma capricolum eingeschleust. Auch hier wurden wieder Wasserzeichen als Erkennungsmerkmal in die Nucleotidsequenz eingebaut. Das daraus hervorgehende Bakterium erhielt den Namen Mycoplasma mycoides JCVI-syn1.0 und war in der Lage, sich selbst fortzupflanzen [22]. Es handelt sich somit um das erste Lebewesen, das komplett im Labor entstanden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hat das Projekt der künstlichen Erzeugung einer Zelle 40 Millionen US$ verschlungen und umgerechnet 200 Arbeitsjahre in Anspruch genommen [18]. Doch die Forschenden gaben sich damit nicht zufrieden. Im Jahr 2016 veröffentlichten sie eine Studie, in der sie Mycoplasma mycoides JCVI-syn3.0 vorstellten [26]. Dieses Bakterium enthält ebenfalls ein künstlich erzeugtes Erbgut, welches jedoch stark verkleinert wurde verglichen mit dem natürlichen Genom von Mycoplasma mycoides . Das Erbgut von JCVI-syn3.0 besteht aus gerade einmal 531.000 Basenpaaren und 473 Genen und ist somit kleiner als das Erbgut jeder anderen zur selbstständigen Fortpflanzung fähigen Zelle [26]. Obwohl das Ziel der Studie war „eine so einfache Zelle zu gestalten, dass die molekulare und biologische Funktion jedes seiner Gene bekannt ist" [26], wurde dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Von den 473 Genen in Mycoplasma mycoides JCVI-syn3.0 fehlt für 149 Gene die bekannte Funktion und bei 79 davon ist nicht einmal klar, für welche Art der Zellprozesse sie zuständig sind [26]. Durch die stark verminderte Genanzahl ist Mycoplasma mycoides JCVI-syn3.0 natürlich auch komplett abhängig von den konstanten Bedingungen im Labor. Ein Überleben in natürlicher Umgebung wäre nunmehr unmöglich.


Der Traum der Erschaffung einer Minimalzelle hat also gerade erst begonnen und wird zukünftig durch immer niedrigere Kosten für die Herstellung künstlicher DNA-Sequenzen enorm an Fahrt aufnehmen. Der davon erhoffte Nutzen, wird sich dann zeigen müssen. Auf die Frage, wie viele Gene Leben benötigt, lautet die Antwort im Moment also 473; Tendenz sinkend.

Ich möchte diesen Artikel mit einem Hinweis auf die vielen ethischen und rechtlichen Fragen beenden, die durch das Aufkommen der Synthetischen Biologie entstanden sind. Sicherlich würde dieses Thema einen eigenen Artikel einnehmen, weswegen ich an dieser Stelle erneut auf die Website der Max-Planck-Gesellschaft zum Thema Synthetische Biologie und den dort veröffentlichten Text von Matthias Braun verweisen möchte [27]. Des Weiteren empfiehlt sich ein Blick in die Publikation von Felicity Keiper und Ana Atanassova [28].

Quellen


1. Wikipedia. Genomgröße. Zuletzt aufgerufen am: 02.05.2020. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Genomgröße.

2. Knippers, Rolf, Eine kurze Geschichte der Genetik. 1.Auflage. 2012: Springer Spektrum.

3. Hou, Y. and S. Lin, Distinct gene number-genome size relationships for eukaryotes and non-eukaryotes: gene content estimation for dinoflagellate genomes. PLoS One, 2009. 4(9): p. e6978.

4. Sclavi, Bianca and John Herrick, Genome size variation and species diversity in salamanders. Journal of Evolutionary Biology, 2019. 32(3): p. 278-286.

5. Parfrey, L. W., D. J. Lahr, and L. A. Katz, The dynamic nature of eukaryotic genomes. Mol Biol Evol, 2008. 25(4): p. 787-94.

6. Spektrum.de. C-Wert-Paradox. 2001. Zuletzt aufgerufen am: 02.05.2020. Quelle: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie-kompakt/c-wert-paradox/2755.

7. Alberts, Bruce, et al., Molekularbiologie der Zelle. 5.Auflage. 2011: Wiley-Blackwell.

8. Joyce, Gerald F., The RNA World: Life before DNA and Protein. 1991. Zuletzt aufgerufen am: 02.05.2020. Quelle: https://ntrs.nasa.gov/archive/nasa/casi.ntrs.nasa.gov/19980211165.pdf.

9. Joyce, G. F., Bit by bit: the Darwinian basis of life. PLoS Biol, 2012. 10(5): p. e1001323.

10. Descent, Uncommon. Gerald Joyce No Longer Uses The NASA “Must Show Darwinian Evolution” Definition Of Life. 2018. Zuletzt aufgerufen am:  02.05.2020. Quelle: https://uncommondescent.com/intelligent-design/gerald-joyce-no-longer-uses-the-nasa-must-show-darwinian-evolution-definition-of-life/.

11. Schrödinger, Erwin, Was ist Leben? 3. Auflage. 1989: R. Piper GmbH & Co.KG, München.

12. Groß, Michael, Astrobiologie für Einsteiger. 1. Auflage. 2012: Wiley-VCH Verlag GmbH.

13. Max-Planck-Gesellschaft, Thema Synthetische Biologie. Was ist Leben?  Zuletzt aufgerufen am: 02.05.2020. Quelle: https://www.synthetische-biologie.mpg.de/17480/was-ist-leben.

14. Weise, Laura I., Kai Libicher, and Hannes Mutschler, Copy, paste, repeat — über die Synthese von Minimalzellen. BIOspektrum, 2018. 24(4): p. 365-367.

15. Needham, David M., et al., A distinct lineage of giant viruses brings a rhodopsin photosystem to unicellular marine predators. Proceedings of the National Academy of Sciences, 2019. 116: p. 20574-20583.

16. Villarreal, Luis P. Are Viruses Alive? 2008. Zuletzt aufgerufen am: 02.05.2020. Quelle: https://www.scientificamerican.com/article/are-viruses-alive-2004/.

17. Forster, A. C. and G. M. Church, Towards synthesis of a minimal cell. Mol Syst Biol, 2006. 2: p. 45.

18. Jewett, M. C. and A. C. Forster, Update on designing and building minimal cells. Curr Opin Biotechnol, 2010. 21(5): p. 697-703.

19. Max-Planck-Gesellschaft, Thema Synthetische Biologie. Anwendungen: Designer-Zellen als Fabriken. Zuletzt aufgerufen am: 02.05.2020. Quelle: https://www.synthetische-biologie.mpg.de/2989/anwendungen.

20. Baeshen, Nabih A., et al., Cell factories for insulin production. Microbial cell factories, 2014. 13: p. 141-141.

21. Posfai, G., et al., Emergent properties of reduced-genome Escherichia coli. Science, 2006. 312(5776): p. 1044-6.

22. Gibson, D. G., et al., Creation of a bacterial cell controlled by a chemically synthesized genome. Science, 2010. 329(5987): p. 52-6.

23. Fraser, C. M., et al., The minimal gene complement of Mycoplasma genitalium. Science, 1995. 270(5235): p. 397-403.

24. Glass, J. I., et al., Essential genes of a minimal bacterium. Proc Natl Acad Sci U S A, 2006. 103(2): p. 425-30.

25. Gibson, D. G., et al., Complete chemical synthesis, assembly, and cloning of a Mycoplasma genitalium genome. Science, 2008. 319(5867): p. 1215-20.

26. Hutchison, C. A., 3rd, et al., Design and synthesis of a minimal bacterial genome. Science, 2016. 351(6280): p. aad6253.

27. Braun, Matthias. Die Synthetische Biologie in der Gesellschaft – ethische, rechtliche und soziale Aspekte. Zuletzt aufgerufen am: 02.05.2020. Quelle: https://www.synthetische-biologie.mpg.de/3066/ethik-und-recht.

28. Keiper, F. and A. Atanassova, Regulation of Synthetic Biology: Developments Under the Convention on Biological Diversity and Its Protocols. Front Bioeng Biotechnol, 2020. 8: p. 310.


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